I.             Sachverhalt

Am 26. Januar 2010 erhoben zwei französische Vereinigungen, CIMADE und GISTI, beim französischen Conseil d’État Klage auf Nichtigerklärung des ministeriellen Rundschreibens vom 3. November 2009 über die Wartezeitbeihilfe (allocation temporaire d’attente). Als existenzsicherndes Einkommen wird diese Beihilfe den Asylbewerbern monatlich während der gesamten Dauer des Verfahrens zur Prüfung ihres Antrags gezahlt. Die beiden Vereinigungen machen geltend, dass dieses Rundschreiben den Zielen der Richtlinie 2003/9 zuwiderlaufe, indem es Asylbewerber vom Bezug der Wartezeitbeihilfe ausschließe, wenn Frankreich in Anwendung der Dublin II-Verordnung einen anderen Mitgliedstaat, den es für die Prüfung des Antrags der Betroffenen für zuständig halte, ersuche, sie aufzunehmen oder wiederaufzunehmen. Der Conseil d’État hat beschlossen, den europäischen Gerichtshof nach der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu fragen.

I.              Entscheidung

Der Europäische Gerichtshof antwortet in seinem Urteil vom 27.09.2012 Az.: C-179/11 erstens, dass ein mit einem Asylantrag befasster Mitgliedstaat die Mindestbedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern auch einem Asylbewerber gewähren muss, bei dem er beschließt, einen anderen Mitgliedstaat als für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaat um dessen Aufnahme oder Wiederaufnahme zu ersuchen. Diese Verpflichtung zur Sicherstellung der Mindestbedingungen gilt bis zur tatsächlichen Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat.

Die Richtlinie 2003/9/EG* legt u. a. Mindestnormen für die materiellen Aufnahmebedingungen von Asylbewerbern (insbesondere Unterkunft, Verpflegung, Nahrung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen) fest. Diese Normen ermöglichen ihnen ein menschenwürdiges Leben und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten. Die Richtlinie gilt für alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die unter den Voraussetzungen der so genannten „Dublin-II-Verordnung“** einen Asylantrag gestellt haben. Diese Verordnung legt die Kriterien zur Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats fest, der also nicht zwangsläufig derjenige ist, in dem der Asylantrag gestellt wurde. Hält ein Mitgliedstaat, bei dem ein Asylantrag gestellt wurde (ersuchender Mitgliedstaat) einen anderen Mitgliedstaat für zuständig (ersuchter Mitgliedstaat), kann er diesen um Aufnahme des Asylbewerbers ersuchen.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Verpflichtung des mit einem Asylantrag befassten Mitgliedstaats, diese Mindestaufnahmebedingungen zu gewähren, „mit der Antragstellung“ einsetzt, selbst wenn dieser Staat nicht der Mitgliedstaat ist, der nach den Kriterien der Dublin-II-Verordnung für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist. Die Richtlinie 2003/9 sieht nämlich nur eine Kategorie von Asylbewerbern vor, die alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen umfasst, die einen Asylantrag stellen. Somit müssen die Mindestaufnahmebedingungen nicht nur Asylbewerbern gewährt werden, die sich im Hoheitsgebiet des zuständigen Mitgliedstaats befinden, sondern auch denen, die auf die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats warten, was mehrere Monate dauern kann.

Der Gerichtshof erläutert weiter, dass sich die Verpflichtung des mit einem Asylantrag befassten Mitgliedstaats, die Mindestaufnahmebedingungen zu gewähren, nur auf Asylbewerber bezieht, die in ebendieser Eigenschaft im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaat verbleiben dürfen. Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass Asylbewerber nach dem Unionsrecht*** nicht nur im Hoheitsgebiet des Staates verbleiben dürfen, in dem der Asylantrag geprüft wird, sondern bis zur tatsächlichen Überstellung der Betroffenen auch im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem dieser Antrag gestellt wurde.

Der Gerichtshof stellt zweitens fest, dass die Verpflichtung zur Gewährleistung der Mindestbedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern ab der Antragstellung und während der gesamten Dauer des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bis zur tatsächlichen Überstellung des Antragstellers durch den ersuchenden Staat gilt. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Verfahren im ersuchenden Mitgliedstaat und dessen Zuständigkeit hinsichtlich der mit der Gewährung der Aufnahmebedingungen verbundenen finanziellen Belastung erst mit der tatsächlichen Überstellung des Asylbewerbers enden. Er erinnert daran, dass die Mindestaufnahmebedingungen in den in der Richtlinie aufgeführten Fällen, in denen der Asylbewerber gegen die Aufnahmeregelung des betroffenen Mitgliedstaats verstößt (wenn er z. B. trotz Aufforderung nicht zur persönlichen Anhörungen erscheint, die zur Prüfung des Antrags vorgesehen sind), eingeschränkt oder entzogen werden dürfen.

III. Erläuterungen

* –  Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18).

** –  Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1). Derzeit wird über Vorschläge verhandelt, mit denen die Richtlinie und die Verordnung ersetzt werden sollen (vgl. KOM[2008] 820 endgültig und KOM[2011] 320 endgültig).

*** –  Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13).